Was ist Bacillus coagulans?

Über den Autor:
Martin Lipsdorf ist Lebensmitteltechnologe. Seine Abschlussarbeit hat der an der Hochschule Anhalt über Laktase geschrieben. Seit 2011 stellt er Laktasepräparate von Hand in Leipzig her. Auf diesem Blog teilt er seine Erfahrungen, um Laktoseintoleranten beim richtigen Umgang mit Laktase zu helfen.
Die Mehrzahl der Leserinnen und Leser findet diesen Artikel auf der Suche nach Informationen zu den Vorteilen, die Bacillus coagulans Ihnen bieten kann. In der Regel wird Bacillus coagulans mit einer unglaublichen Anzahl an Vorteilen beworben, die er bringen soll. Dabei sind die Vorteile nicht belegt und die wenigen kleinen Studien, die es zu den Produkten gibt, sind oft genug von Herstellern finanziert.
Dieser Artikel will Ihnen helfen, besser zu verstehen, warum Bacillus coagulans für den Bauch überhaupt im Gespräch ist. Mit diesem Wissen ausgerüstet, will der Artikel Ihnen helfen, die Vielzahl an Behauptungen kritisch zu beurteilen, mit denen er verkauft wird, damit Sie informiert entscheiden können, ob er einen Versuch wert ist.
Der Werbebegriff „Probiotika“ – zwischen Krankheit und Gesundheit
Die Geschichte der „Probiotika“ geht bis in das Jahr 1907 zurück. Élie Metchnikoff (ein Nobelpreisträger) fand, dass die enge Zusammenarbeit zwischen dem Menschen und den unzähligen Mikroorganismen in seinem Darm besser untersucht werden müsse. Würden wir herausfinden, wie wir schädliche Organismen schwächen und förderliche Organismen stärken könnten, würde sich das immens auf die Gesundheit auswirken. Damit begann die Forschung zu Probiotika.

Dabei ist wichtig sich in Erinnerung zu rufen, in welcher Zeit Metchnikoff diese Idee aufwarf. Die Idee, dass Mikroorganismen auch für die Gesundheit wichtig sind, war zu Metchnikoffs Zeit alles andere als selbstverständlich. Die Kochschen Postulate, mit denen Robert Koch den Grundstein für die Forschung nach den Mikroorganismen legte, die Krankheiten auslösen können, waren gerade 20 Jahre alt. Dass Mikroorganismen auch ihren Anteil daran haben könnten, dass es Menschen gut – nicht nur nicht schlecht – geht, war Metchnikoffs wichtiger Beitrag. Diese Unterscheidung ist wichtig, wenn Sie das Problem hinter Probiotikprodukten besser verstehen wollen.
Probiotika gegen Erkrankungen:
Mikroorganismen, die als Medikament eingesetzt werden, um Krankheiten (auch unterstützend) zu heilen, müssen den strikten Standards entsprechen, die an jedes andere Medikament gestellt werden. Ein paar dieser krankheitswirksamen, bekannten Probiotika kennen wir, etwa E.coli Nissle 1917 gegen Koliken gerade bei den Kleinen oder Saccharomyces boulardii gegen reisebedingte Durchfälle. Sie sind apothekenpflichtig.
Sobald wir dieses Terrain der Apothekenpflicht verlassen, wird es wild. Das gilt sowohl für Nahrungsergänzungen in der Apotheke, die dort verkauft werden, um vom Nimbus der richtigen Medikamente zu profitieren, als auch für andere Quellen.
„Probiotika“ für die menschliche Gesundheit – dieses Problem soll Bacillus coagulans eigentlich lösen:
Sobald ein Mikroorganismus nicht mehr für eine Krankheit eingesetzt werden soll, sondern für die mit gesundheitlichen Vorteilen angeboten wird, wird er frei verkäuflich und unterliegt der europäischen Health-Claim Verordnung. Diese Verordnung untersagt in Europa Werbung mit „Wirkungen“, die nicht durch ein Fachgremium und auf Basis von gut durchgeführten Studien belegt wurden. Bis heute gibt es kein einziges „Probiotika“, das diese Hürde hat nehmen können.
Die Geschichte der meisten „Probiotika“-Nahrungsergänzungsmittel, die Sie frei kaufen können, können Sie als Antwort auf diese rechtliche Situation verstehen. Das Fachgremium, die EFSA, prüft ein Probiotikum und es tut..nichts. Da sich jedoch mit Probiotika gutes Geld verdienen lässt, braucht die Industrie eine gute Antwort, warum es ja vielleicht doch sein kann, dass das Probiotikum hilft und mit gesundheitlichen Vorteilen beworben werden kann.
Die einfachste Lösung, mit der große Hersteller gutes Geld verdienen, ist das Hinzufügen von Stoffen, die das Gremium bereits geprüft hat. Wenn Sie also überlegen, viel Geld für ein „Probiotikum“ auszugeben, das das Immunsystem unterstützen soll, schauen Sie auf das Etikett. Fast sicher findet sich Vitamin C oder Zink, die als Alibi hinzugefügt werden, weil sie solche Behauptungen ermöglichen.
Eine andere Lösung ist, die Mikroorganismen aufwendig zu verkapseln mit einem System, das als Innovation verkauft wird, und zu behaupten, dass damit die fehlende Wirkung endlich gegeben ist. Warum verkapseln?
Ein zentrales Problem ist, wie die vermutlich guten Organismen überhaupt in den Darm kommen sollen, um dort eine „Wirkung“ auf die Gesundheit zu haben.
Essen wir etwa einen Joghurt, dann enthält er je nach Frische eine große Menge Lactobacillen, wie den berühmten Lactobacillus bulgaricus.
Doch im Magen ist die Säure so stark, sind die Verdauungsenzyme so gewalttätig, dass nahezu alle Lactobacillen ihr Leben lassen und nur zerstört im Darm ankommen.
Schafft es doch ein winzig kleiner Teil zumindest in den Dünndarm, so warten dort der Gallensaft und noch mehr Enzyme – das überleben die Lactobacillen aus Joghurt nicht.
Deshalb überziehen Hersteller die Mikroorganismen mit Schutzschichten und verkaufen sie dann, natürlich mit Werbung für diese ganz besondere Schutzschicht, als würde damit das Problem gelöst sein.
Auftritt: Bacillus coagulans
Bacillus coagulans und ähnliche Produkte sind die „neueste“ Antwort der Hersteller darauf, warum „Probiotika“ gesundheitlich wirksam sein sollen. Statt eine synthetische Schutzschicht zu nutzen, bringt Bacillus coagulans ganz von Natur aus seine eigene Schutzschicht mit.

Als Wissenschaftler um die Jahrtausendwende begannen, das Bacillus coagulans mit Magensäure, Verdauungsenzymen und Gallensaft zu drangsalieren, zeigte es sich relativ unbeeindruckt, ohne dass es vorher synthetisch behandelt wurde. Einen kleinen Teil erwischte es zwar dennoch, aber der Großteil hielt sich ziemlich wacker. Selbst als man es in Teig gab und es in den Ofen schob, war das Brot danach immer noch gefüllt mit quietschlebendigem Bacillus Coagulans. Deshalb wurde er ein beliebtes Forschungsthema als Bestandteil in Lebensmitteln – sogenannten „funktionellen Lebensmitteln“. Funktionelle Lebensmittel sollen neben der Ernährung auch einen bewerbbaren „Zusatznutzen“ liefern. Soll dieser Zusatznutzen in irgendeiner Form „probiotisch“ sein, dann muss am Ende im Produkt noch etwas Lebendiges enthalten sein.
Die Ursache dieser Hartnäckigkeit war eine besondere Form, die es annehmen konnte, wenn es nicht genug zu essen gab, um zu überleben: Sporen. B. coagulans ist ein sporenbildendes Bakterium. Es wurde zum ersten Mal in Kondensmilch gefunden, die nach der Erhitzung noch flockte – weil die Bacillus coagulans Sporen die extreme Hitze überlebt hatten. Sporen, das klingt zunächst nach Hausschimmel, doch auch andere Organismen haben diese Fähigkeit. Stellt Bacillus coagulans durch feine Fühler fest, dass die Nahrung knapp zu werden scheint, beginnt es, diesen festen, schwer zerstörbaren Panzer aufzubauen und schlafen zu gehen.
Es frisst nicht mehr, es bewegt sich nicht mehr und vermehrt sich auch nicht. Ein Bazillen-Winterschlaf beginnt.
Es stellt aber auch einen Wecker, der an der Schutzschicht immer wieder schaut, wie es ringsherum um Fressen bestellt ist. Und wenn die Tafel gedeckt ist, schlägt sein Wecker aus und weckt den Bacillus. Es keimt aus und wirft seine Schale wieder ab – es ist wach und kann munter weiteressen.
In diesem Winterschlaf schaden auch die so widrigen Bedingungen unserer Verdauung dem Bacillus coagulans nichts. Doch offen blieb die Frage, ob es denn nicht einfach weiter schläft.
Erst vor 5 Jahren wurde durch Prof. Simon Cutting (Royal Holloway University of London) eine Vermutung aufgestellt und geprüft [1]. Nimmt man Proben vom Stuhl menschlicher Versuchsteilnehmer, findet sich darin eine durchweg recht große Zahl an lebensfähigen Sporen.
Misst man dagegen, wie viele Bacillensporen in Erde enthalten sind, so kommt man „nur“ auf das Hundertfache. Da wir aber allenfalls winzig kleine Mengen an Erdbakterien über unsere Nahrung aufnehmen, müsste man 20 kg Reis oder Getreide und mindestens 2 Liter Milch (nicht empfohlen, viel Laktose …) pro Tag trinken, um so viele Sporen über die Nahrung aufzunehmen.
Die Vermutung von Prof. Cutting: Wir nehmen nur einen Bruchteil Sporen über die Nahrung auf, die sich im Dünndarm vermehren, wo es zur zusätzlichen Bildung von Sporen kommt, die für die hohe Zahl im Stuhl verantwortlich sind.
Es gibt auch andere Hinweise, die das bestärken [2]. Unser Bacillus coagulans wacht zum Beispiel dann auf, wenn die Umgebung so viele gelöste Salze enthält, wie sie im Dünndarm verfügbar sind. Das sogenannte Ionenmilieu, das es zum Aufwachen bringt, ist verblüffend ähnlich zu dem des Dünndarms.
Sporen – so Cutting – scheinen also seit langer Zeit an die Verdauung durch Säugetiere angepasst zu sein und einen Teil ihres natürlichen Lebens im Dünndarm zuzubringen.
Bacillus coagulans könnte also im Dünndarm wach werden, auch wenn wir bisher nur Indizien dafür haben, die weiterer Forschung bedürfen. Damit löst er das Stabilitätsproblem der „Probiotika“-Produkte auf natürliche Weise.
Sind damit alle Probleme gelöst? Leider: Nein.
Ankommen und für eine bessere Gesundheit sorgen sind zwei Paar Schuhe
Wir wissen, dass Bacillus coagulans im Dünndarm ankommt und können vermuten, dass er dort sogar ein Stück weit heimisch zu sein scheint, bevor er wieder ausgeschieden wird. Ob er aber dort auch irgendeine Wirkung auf den Körper entfaltet, das wissen wir nicht.
Viele „Forschungen zu Probiotika“ werden direkt von Herstellern finanziert, die ihren kommerziellen Produkten damit Glaubwürdigkeit geben wollen.. Dabei kommen oft kleine, nicht repräsentative Studien mit geringer Teilnehmerzahl zum Einsatz. Ziel ist es meist, einzelne positive Ergebnisse hervorzuheben, um Marketingaussagen ableiten zu können. Angepriesen werden die „potentiellen Vorteile“, nicht die belegten Wirkungen. In den USA ist das erlaubt, in Europa eigentlich verboten, auch wenn sich daran nicht jeder Anbieter im Netz hält. Das ist auch bei Bacillus coagulans nicht anders.
Die Mehrzahl der Studien, die zitiert werden, um eine vermeintliche Wirkung auf die allgemeine Gesundheit, zu Reizdarm, Proteinverdauung oder Immunstärkung zu belegen, sind von einem der zwei US-Unternehmen finanziert, die Bacillus coagulans herstellen und vertreiben. Die „klinischen Studien“ haben wenige Teilnehmer, die Qualität genügt nicht ansatzweise, um mehr daraus abzuleiten, als dass eine große Studie gemacht werden sollte – in keinem Fall gesundheitliche Vorteile.
Gern wird auch suggeriert, dass eine Studie sich vom großen Rest dieser Studienmasse deshalb abhebt, weil sie einen ganz besonderen Bacillus coagulans (GB, MTCC, B. coagulans DSM mit einer Nummer) verwendet. Diese Nummern sind die Bezeichnungen, unter denen dieser bestimmte Stamm in einer offiziellen oder firmeneigenen Datenbank hinterlegt wurde.
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Stämmen von Bacillus coagulans sind jedoch genetisch oft so gering, dass sie eher vernachlässigbar sind – sie dürften recht sicher untereinander austauschbar sein und würde man es blind testen, könnte man den Einen vom Anderen in der Anwendung nicht unterscheiden.
Bacillus coagulans – viele Namen
Zur Verwirrung kommt hinzu, dass Bacillus coagulans über die Jahrzehnte den Namen gewechselt hat und Studien unter verschiedenen Namen gemacht wurden. Für eine Zeit hatte es zwei Namen: Bacillus coagulans und Lactobacillus sporogenes. Lactobacillus sporogenes finden Sie oft in Werbetexten, meist in Assoziation mit fermentierten Lebensmitteln, in denen er gar nicht vorkommt, damit das etwas unappetitliche Wort „Bacillus“ vermieden werden kann, das wir eben doch öfter noch mit Ungesundem assoziieren. „Probiotisches Bakterium“ klingt eben doch immer noch etwas dubios. Bei beiden Namen handelt es sich aber um das gleiche Kerlchen. Wenn Sie lesen, eines davon sei durch Studien besser belegt, ist das schlicht falsch.
Seit 2021 werden neuere Studien wahrscheinlich auch unter dem neuen Namen erscheinen, den Bacillus coagulans erhalten hat.
Bacillus coagulans heißt heute Weizmannia coagulans
In 2021 wurde nach Untersuchungen der Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Bacillus-Mitgliedern entschieden, dass Bacillus coagulans so anders ist, dass er besser einen eigenen Namen bekommt: Weizmannia coagulans. Auch hier gilt, dass die Studienlage die gleiche ist und das Tierchen auch.
Stand heute haben wir keinen Anlass zur Annahme, dass Bacillus coagulans / Weizmannia coagulans einen Effekt für die Gesundheit, also einen Effekt auf den Körper seiner Gastgeberin, seines Gastgebers hat. Wir bieten ihn dennoch an – warum?
Bacillus coagulans verstoffwechselt Laktose
Wenn Bacillus coagulans im Dünndarm tatsächlich wach und aktiv wird, sich ein Stück weit vermehrt, dann braucht er Futter. Bei einer Laktoseintoleranz, bei der Laktose unverdaut im Dünndarm herumschwimmt, weil die körpereigene Laktase dort ihre Arbeit eingestellt hat, hätte Bacillus coagulans die Chance, seine zweite besondere Kraft einzusetzen: die Verstoffwechselung von Laktose zu Milchsäure.

Der veraltete Name für Bacillus coagulans, Lactobacillus sporogenes, gibt uns gerade einen Hinweis auf diese Fähigkeit. Lactobacillen sind die kleinen Helfer, die aus Milch durch Verstoffwechslung von Milchzucker zu Milchsäure Joghurt machen.
Milchsäure klingt zunächst ziemlich ätzend. Sie findet sich aber in natürlicher Form in fermentierten Lebensmitteln wie Joghurt, Kefir und Sauerteig.
Die Damen unter uns kennen vielleicht auch Milchsäuretampons zum Schutz der vaginalen Mikroflora – der alte Rat, ein Tuch mit Joghurt zu tränken, wirkt nicht zuletzt durch die Laktobacillen und die Milchsäure im Joghurt.
Es ist diese gut belegte Fähigkeit, Milchzucker zu verdauen und die ebenso gut belegte Stabilität des Bacillus coagulans auf dem Weg in den Darm, die uns vor über 10 Jahren dazu geführt hat, ihn anzubieten. Das Ziel war, einen stabilen, milchzuckerverdauenden Organismus dorthin zu bringen, wo bei uns Laktoseintoleranten zu viel Milchzucker unverdaut umhergeistert.
Nun ist bekannt, dass die relativ kleine Zahl an Mikroorganismen im Dünndarm gerade solche Zucker fressen, die nicht gespalten und von unserem Körper aufgenommen werden. Gerade am Anfang des Dünndarms hängt die Zusammensetzung der Dünndarmflora scheinbar stark mit den Essgewohnheiten zusammen. Eine gesunde Ernährung, die auch Ihren Darm unterstützt und Ihnen ein positives Bauchgefühl wiedergibt, ist deshalb sehr wichtig.
Wir glauben aus der Erfahrung der letzten Jahre mit diesem kleinen Helfer, dass Bacillus Coagulans es wert ist, hier beachtet zu werden. Ob Bacillus coagulans genügend Milchzucker verdaut, um hier zu unterstützen, muss offen bleiben – hier ist mir Transparenz und Offenheit wichtig. Ob er anschlägt, das können wir Ihnen nicht garantieren. Es gibt bisher keine Untersuchungen, die eine sichere Wirkung nahelegt und auch die europäische Lebensmittelsicherheit hat sich bisher nicht positiv zu Bacillus Coagulans und seinem Laktoseappetit geäußert – auch nicht negativ, schlicht gar nicht.
Am Ende ist es wichtig, ob er Ihnen guttut. Es gilt herauszufinden, ob die lange Geschichte des Bacillus coagulans von Kondensmilch über Brot bis zum menschlichen Dünndarm für Sie und Bacillus nicht doch ein gemeinsames Happy End hat.
[1] Hong, H. A., To, E., Fakhry, S., Baccigalupi, L., Ricca, E., & Cutting, S. M. (2009). Defining the natural habitat of Bacillus spore-formers. Research in microbiology, 160(6), 375-379.
[2] Casula, G., & Cutting, S. M. (2002). Bacillus probiotics: spore germination in the gastrointestinal tract. Applied and environmental microbiology, 68(5), 2344-2352.