Was ist Bacillus coagulans?
Martin Lipsdorf stellt seit 2011 Laktasepräparate von Hand in Leipzig her und teilt seine Erfahrungen auf diesem Blog mit Menschen, die keine Milch vertragen.
Hinweis: Seit 2006 gilt in Europa die Novel Food Verordnung, die es untersagt, gesundheitliche Behauptungen aufzustellen, die nicht durch eine zentrale EU-Behörde genehmigt worden sind. In diesem Artikel versuche ich daher einen Mittelweg zu finden zwischen Aufklärung für Sie und den rechtlichen Grenzen: Ganz konkret muss ich Sie hier darauf hinweisen, dass der Artikel keine gesundheitlichen Wirkungen verspricht – Bacillus coagulans wurde noch nicht durch die EU Behörde geprüft. Leider fehlt uns die dazu nötige sechsstellige Summe, die als Gebühr auch von kleinen Projekten verlangt wird. Und falls Sie sich wundern, warum Sie im Internet gern vollmundig Wirkungen angepriesen bekommen – einige der Händler haben ihren Sitz nicht in Deutschland, sondern in einem Drittstaat wie England oder den Niederlanden, wo diese Regel scheinbar wenig kontrolliert wird. Andere fügen unter anderem eine Prise Zink hinzu und können dann, dank des Zinks, eine Wirkung für das Immunsystem bewerben. Beides tun wir nicht.
„Bacillus coagulans klingt nicht besonders lecker…“
Wenn wir umgangssprachlich liebevoll den verschnupften Freund als „kleinen Bazillus“ bezeichnen, worüber er sich sicher sichtlich freut, zeigt das, wie sehr wir das Wort mit Krankheiten verbinden.
Doch das Z macht einen großen Unterschied, denn in unserem Alltag hat sich über viele Generationen das Wort Bazillus synonym für jedes Bakterium gehalten – eine Gruppe, die immens groß ist und tatsächlich von Krankheitserregern bis Joghurtkulturen alles enthält.
Bacillus coagulans dagegen erhält seinen Namen nur indirekt von diesem Wort „Bazillus“.
Es ist zwar ein Bakterium, doch es gehört zu einer bestimmten Gattung. Gattungen sind sozusagen im großen Königreich der Bakterien kleine Völker, die viele Gemeinsamkeiten miteinander teilen und sich von den anderen unterscheiden.
Seine Gattung ist die der „Bacillen“ (mit C), was zunächst auch nur im Lateinischen „Stäbchen“ heißt und sich auf die größte Gemeinsamkeit aller Bacillen bezieht.
Ihre Form hat stets die eines kleinen Stäbchens, wenn man sie unter dem Mikroskop betrachtet.
Neben Bacillus coagulans gehören zu dieser Gruppe auch gefährliche Keime wie der Antraxerreger oder Bacillus cereus, ein Keim, der Lebensmittel verdirbt und dabei schwere Durchfälle auslöst.
Aber auch viele gute Keime sind Teil der Bacillen.
Aus dem Bacillus natto wird in Asien das gesunde Natto, eine Sojabohnenspeise, hergestellt.
Bacillus thuringiensis findet als natürliche Alternative zu Insektenpestiziden in der Landwirtschaft Anwendung.
Und das kuriose Bacillus megaterium gehört auch zu dieser Gattung – das seinem Namen nach einfach ein mächtig dickes Bacillus ist.
Sie alle lassen sich untereinander gut unterscheiden, doch alle sind eben kleine (oder dicke) Stäbchen.
Bacillus coagulans ist in dieser Gattung ein Sonderfall.
Während bei anderen Bacillen die Zuordnung relativ einfach war, wurde dieses Kerlchen 7 Jahre lang zwischen zwei Gattungen hin- und hergeschubst.
Zum ersten Mal wurde Bacillus coagulans 1915 in Iowa (USA) entdeckt, als sich eine lokale Milchfabrik mit einem ungewohnten Problem herumschlagen musste.
Obwohl damals angenommen wurde, dass bei der Herstellung von Kondensmilch durch Erhitzen ein steriles, sicheres Produkt entsteht, gab es immer wieder merkwürdige Ausnahmen.
Trotz hoher Temperaturen beulten sich einige Packungen aus (es waren Gase entstanden) oder die Kondensmilch wurde flockig.
Die Iowa Agricultural Experimental Station wurde beauftragt, dem auf den Grund zu gehen, als dieses Phänomen stärker als gewöhnlich vorkam und ein ziemliches Loch in der Kasse des Kondensmilchproduzenten hinterließ.
Die Ursache nach dem Grund brachte ein neues Mitglied in die Familie der Bacillen, das seinen Namen dadurch erhielt, dass es Kondensmilch „coagulieren“ ließ (sie flockte): Bacillus coagulans
Um seinen Entdecker zu ehren, wird es auch Bacillus coagulans Hammer genannt – kein Name für ein besonders zupackendes Probiotikum, sondern eine Erinnerung an den längst verstorbenen Herrn Hammer aus Iowa.
Unabhängig von Hammer beschrieben Horowitz-Walssowa und Nowotelnow 1932 in ihrem Artikel „Über eine sporogene Milchsäurebakterienart, Lactobacillus sporogenes“ das gleiche Bacillus – und steckten es in die Gattung der Lactobacillen.
Über das Bacillus begann nun ein kleiner Streit, denn es hatte plötzlich zwei Namen und beide erschienen (wie so oft) den Vertretern des jeweiligen Namens als absolut plausibel.
Bacillen produzieren keine Milchsäure, Lactobacillen dagegen erhalten durch diese spezielle Fähigkeit ihren Namen. S
ie vergären Milchzucker und andere Stoffe zu Milchsäure, wie es in deinem Joghurt passiert.
Also, so die Vertreter des Namens Lactobacillus sporogenes, ist es eindeutig ein Lactobacillus.
Zweifellos!
Dagegen wandten die Vertreter des Namens Bacillus coagulans ein, dass dieses Kerlchen Sporen bilden könne.
In der Milchfabrik in Iowa konnte es nur in die Kondensmilch gelangen, weil es sich in einem harten, hitzebeständigen Panzer einkugeln und schlafen konnte – die sogenannte Sporenform.
Eine Form, in der Bacillen Jahrhunderte überleben können und schwer zerstörbar sind.
Lactobacillen können das nicht – und so war den Vertretern des Namens Bacillus coagulans ganz klar, dass es ein Bacillus sein müsse.
Zweifellos!
Sieht man sich die Wissenschaftsliteratur an, gewannen die Zweiten den Streit ohne Konfrontation – die Wissenschaftswelt nutzte den Namen Bacillus coagulans einfach unbesprochen, während Lactobacillus sporogenes kaum verwendet wurde.
Der Streit sollte später auch mit modernen Analysegeräten entschieden werden, die klar die Nähe zur Gattung der Bacillen im Erbgut zeigen konnten – doch Totgeglaubte leben bekanntlich länger!
Warum wurde ein Bacillus, das sich erst so unbeliebt und Kondensmilch unverkäuflich gemacht hat, überhaupt für Menschen untersucht?
Als Bacillus coagulans in Produkten mit vermeintlich probiotischer Wirkung vermarktet werden sollte, war der Name ein ziemliches Problem:
Bacillus klingt nun leider nicht so angenehm, eher nach Schnupfen.
Also wurde der alte Name wieder herausgeholt.
Er findet sich seit ungefähr 20 Jahren immer wieder überall dort, wo die vermeintlich probiotische Wirkung untersucht wird.
Entgegen aller gesetzlichen Pflichten wird er auch melodisch auf das Etikett der Kapseln oder Tabletten gedruckt (auf unserem Etikett steht dagegen der korrekte, etwas Argwohn erweckende Name Bacillus coagulans)
Probiotika sind lebendige Mikroorganismen, denen eine positive gesundheitliche Wirkung nachgesagt wird.
Die Geschichte der Probiotika geht bis in das Jahr 1907 zurück. Élie Metchnikoff (ein Nobelpreisträger) fand, dass die enge Zusammenarbeit zwischen dem Menschen und den unzähligen Mikroorganismen in seinem Darm besser untersucht werden müsse.
Würden wir herausfinden, wie wir schädliche Organismen schwächen und förderliche Organismen stärken könnten, würde sich das immens auf die Gesundheit auswirken.
Diese Idee beschäftigt Wissenschaftler nun seit über einem Jahrhundert – und ein zentrales Problem dabei ist, wie die vermutlich guten Organismen überhaupt in den Darm kommen.
Essen wir etwa einen Joghurt, dann enthält er je nach Frische eine große Menge Lactobacillen, wie den berühmten Lactobacillus bulgaricus.
Doch im Magen ist die Säure so stark, sind die Verdauungsenzyme so gewalttätig, dass nahezu alle Lactobacillen ihr Leben lassen und nur zerstört im Darm ankommen.
Schafft es doch ein winzig kleiner Teil zumindest in den Dünndarm, so warten dort der Gallensaft und noch mehr Enzyme – das überleben die Lactobacillen aus Joghurt nicht. Wenn aber Metchnikoffs Idee je Früchte tragen sollte, musste man gute Organismen finden, die diese Hürden überwinden. Oder – ein anderer Weg – man musste die empfindlichen Organismen aufwendig mit Schutzschichten überziehen.
Bacillus Coagulans – starke Kerlchen
Erinnern wir uns daran, wie Bacillus coagulans entdeckt wurde. Kondensmilch wurde stark erhitzt, um Keime abzutöten – doch Bacillus coagulans überlebte und machte dem Fabrikanten zu schaffen.
Es ist also nicht sonderlich zimperlich, wenn es um sein eigenes Überleben geht:
Es hat eine eigene, natürliche Schutzschicht.
Als Wissenschaftler um die Jahrtausendwende begannen, das Bacillus coagulans mit Magensäure, Verdauungsenzymen und Gallensaft zu drangsalieren, zeigte es sich relativ unbeeindruckt.
Einen kleinen Teil erwischte es zwar dennoch, aber der Großteil hielt sich ziemlich wacker.
Selbst als man es in Teig gab und es in den Ofen schob, war das Brot danach immer noch gefüllt mit quietschlebendigem Bacillus Coagulans.
Die Ursache war eine besondere Form, die es annehmen konnte, wenn es nicht genug zu essen gab, um zu überleben: Sporen
Das klingt zunächst nach Hausschimmel, doch auch andere Organismen haben diese Fähigkeit.
Stellt Bacillus coagulans durch feine Fühler fest, dass die Nahrung knapp zu werden scheint, beginnt es diesen festen, schwer zerstörbaren Panzer aufzubauen und schlafen zu gehen.
Es frisst nicht mehr, es bewegt sich nicht mehr und vermehrt sich auch nicht.
Ein Bacillen-Winterschlaf beginnt.
Es stellt aber auch einen Wecker, der an der Schutzschicht immer wieder schaut, wie es ringsherum um Fressen bestellt ist.
Und wenn die Tafel gedeckt ist, schlägt sein Wecker aus und weckt das Bacillus.
Es keimt aus und wirft seine Schale wieder ab – es ist wach und kann munter weiteressen.
In diesem Winterschlaf schaden auch die so widrigen Bedingungen unserer Verdauung dem Bacillus coagulans nichts.
Doch offen blieb die Frage, ob es denn nicht einfach weiterschläft.
Erst vor 5 Jahren wurde durch Prof. Simon Cutting (Royal Holloway University of London) eine Vermutung aufgestellt und geprüft.
Nimmt man Proben vom Stuhl menschlicher Versuchsteilnehmer, findet sich darin eine durchweg recht große Zahl an Bacillen-Sporen.
Misst man dagegen, wie viele Bacillensporen in Erde enthalten sind, so kommt man „nur“ auf das Hundertfache.
Da wir aber allenfalls winzig kleine Mengen an Erdbakterien über unsere Nahrung aufnehmen, müsste man 20 kg Reis oder Getreide und mindestens 2 Liter Milch (nicht empfohlen, viel Laktose …) pro Tag trinken, um so viele Sporen über die Nahrung aufzunehmen.
Die Vermutung von Prof. Cutting:
Wir nehmen nur einen Bruchteil Sporen über die Nahrung auf, die sich im Dünndarm vermehren und für die hohe Zahl im Stuhl verantwortlich sind.
Es gibt auch andere Hinweise, die das bestärken.
Unser Bacillus coagulans wacht zum Beispiel dann auf, wenn die Umgebung so viele gelöste Salze enthält, wie sie im Dünndarm verfügbar sind.
Das sogenannte Ionenmilieu, das es zum Aufwachen bringt, ist verblüffend ähnlich zu dem des Dünndarms.
Sporen – so Cutting – scheinen also seit langer Zeit an die Verdauung durch Säugetiere angepasst zu sein und einen Teil ihres natürlichen Lebens im Dünndarm zuzubringen.
Bacillus coagulans könnte also im Dünndarm wach werden, auch wenn wir bisher nur Indizien dafür haben, die weiterer Forschung bedürfen.
Wäre es so, dann hätte Bacillus coagulans im Dünndarm die Chance, seine zweite besondere Kraft einzusetzen: die Produktion von Milchsäure.
Der Namensstreit um Bacillus coagulans entbrannte ja gerade um seine Fertigkeit, wie Lactobacillen Milchsäure zu bilden – was andere Bacillen eben nicht können.
Milchsäure klingt zunächst ziemlich ätzend, sie findet sich aber in natürlicher Form in Joghurt, Kefir und Sauerteig.
Die Damen unter uns kennen vielleicht auch Milchsäuretampons zum Schutz der vaginalen Mikroflora – der alte Rat, ein Tuch mit Joghurt zu tränken, wirkt nicht zuletzt durch die Laktobacillen und die Milchsäure im Joghurt.
Auch Ihnen kann Milchsäure Gutes tun
Ob Bacillus coagulans genügend Milchsäure produziert, um hier zu unterstützen, muss offen bleiben – seine gesundheitliche Wirkung wurde bisher nicht betätigt*. Spannend ist Milchsäure dennoch, nicht zuletzt, weil es die Milchsäure aus Laktose produziert.
Bei uns Betroffenen ist das Problem gerade, dass wir Laktose nicht verdauen können – sie schwimmt ungespalten im Dünndarm herum, wo unsere Laktase eigentlich ihre Arbeit machen sollte.
Nun ist bekannt, dass die relativ kleine Zahl an Mikroorganismen im Dünndarm gerade solche Zucker fressen, die nicht gespalten und von unserem Körper aufgenommen werden.
Gerade am Anfang des Dünndarms hängt die Zusammensetzung der Dünndarmflora scheinbar stark mit den Essgewohnheiten zusammen.
Eine gesunde Ernährung, die auch Ihren Darm unterstützt und Ihnen ein positives Bauchgefühl wiedergibt, ist deshalb sehr wichtig.
Wir glauben aus der Erfahrung der letzten Jahre mit diesem kleinen Helfer, dass Bacillus Coagulans es wert ist, hier beachtet zu werden.
Ob er nun anschlägt, das können wir Ihnen nicht garantieren. Es gibt bisher keine Untersuchungen, die eine sichere Wirkung nahelegt und auch die europäische Lebensmittelsicherheit hat sich bisher nicht positiv zu Bacillus Coagulans geäußert – auch nicht negativ, schlicht gar nicht.
Am Ende ist es wichtig, dass es Ihnen guttut. Es gilt herausfinden, ob die lange Geschichte des Bacillus coagulans von Kondensmilch über Brot bis zum menschlichen Dünndarm für Sie und das Bacillus nicht doch ein gemeinsames Happy End hat.