Wie geht man mit Laktoseintoleranz um?

Martin Lipsdorf stellt seit 2011 Laktasepräparate von Hand in Leipzig her und teilt seine Erfahrungen auf diesem Blog mit Menschen, die keine Milch vertragen.

Wenn Sie Bücher aus den 90er und Nuller Jahren aufschlagen, lesen Sie eine eindeutige Antwort: Laktosefreie Ernährung. Verzichten Sie auf Milchprodukte. Oft besteht die Hälfte des Buches aus langen Listen von Produkten, die zu meiden sind und Rezepten, die laktosefrei sind. 

Das Problem an diesem Ansatz: er entspricht kaum der praktischen Erfahrung und den heutigen Empfehlungen, etwa denen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung oder der Europäischen Lebensmittelsachverständigen (EFSA).

Beide halten fest, dass ein kompletter Verzicht für die absolute Mehrheit so wenig notwendig ist, wie die Spurensuche nach Laktose in kleinsten Anteilen. Bis zu 6 g Laktose pro Mahlzeit sorgen laut EFSA bei den wenigsten Betroffenen für Sorgen (das sind ungefähr 100ml Milch). Viele Betroffene vertrügen noch mehr.

Entscheidend dabei ist das richtige Timing. 

Wie Sie vorher gelesen haben, freuen sich Ihre Darmhelfer grundsätzlich über Laktose und die entstehenden Stoffe können nützlich sein. Es ist erst die große Menge, die Ihren Bauch überlastet. Was tun wir also? Es wird Ihnen furchtbar trivial erscheinen, doch bitte geben Sie dem alten Sprichwort „In der Einfachheit liegt die höchste Vollendung“ eine Chance.

Der erste Kniff

Unser erster Kniff sollte es sein, große Milchmahlzeiten zunächst etwas zu reduzieren und zu verteilen. Statt einmal am Tag richtig zu genießen und Ihre Helfer damit zu überlasten, verteilen Sie sich kleine Genussmomente über den Tag. Das entlastet Ihren Bauch, denn er bekommt es auf einen Schwung mit kleineren Mengen Laktose zu tun.


Der zweite Kniff

Unser zweiter Kniff sollte sein, Milchprodukte nie alleine, sondern so oft es geht mit einer Mahlzeit einzunehmen. Die Mahlzeit wird im Magen mit dem Milchprodukt gut vermischt.  Dadurch wandert das Milchprodukt langsamer durch unseren Dünndarm. Dort hat Ihr Körper mehr Zeit sich darum zu kümmern, wenn er es noch etwas kann. Auch hier reduzieren wir wieder die Menge des Milchzuckers, die je Zeiteinheit im Darm ankommt. Ebenso hilfreich ist der Griff zu Vollfettstufen von Milchprodukten – das Fett verlangsamt die Verdauung und gibt Ihrem Bauch mehr Zeit.

Unsere Helfer im Dickdarm bekommen den Milchzucker durch beide Kniffe langsamer und in kleineren Portionen. Sie erinnern sich: in kleinen Mengen sind die Stoffe wie Milchsäure und Fettsäuren sogar nützlich, die unsere Helfer aus dem Milchzucker machen. Auch hier bekommt unser Körper auf diesem Weg mehr Zeit, um die Stoffe wie Fettsäuren und Milchsäure gut zu nutzen und wird weniger davon überlastet. Gase können Ihren Weg über die Lunge und, in kleinen Tönen, über das Pupsen nehmen. 

Über den Tag verteilt und mit Mahlzeiten eingenommen, wird Milchzucker so oft besser verträglich. Es gibt Betroffene, die auf diesem Weg einen großen Teil Ihrer Sorgen in den Griff bekommen und keine weitere Umstellung brauchen.

Wenn Ihnen die beiden ersten Kniffe also zu trivial erscheinen, dann haben Sie recht: Ihr Ziel ist, den größten Effekt mit den einfachsten Mitteln zu erreichen und zu sehen, ob Sie sich damit schon wohlfühlen.

Wenn es noch nicht so richtig klappt, dann ist das gute, bewährte Ernährungstagebuch ein guter dritter Schritt. Sie notieren kurz das Datum und was Sie gegessen haben. Wenn Beschwerden auftreten, dann notieren Sie die Beschwerden und nach welcher Mahlzeit sie kamen. Hilfreich ist, wenn Sie für sich notieren, ob die Beschwerden Sie eingeschränkt haben oder ob es, wie oft am Tag, nur Pupsen und vielleicht etwas weicher Stuhl waren. Damit verhindern Sie, dass Sie in sich hineinhorchen und jede Bauchbewegung notieren müssen. So ein Bauch ist oft laut, manchmal muffelig und launisch – deshalb ist es wichtig, einschränkende Beschwerden von der Persönlichkeit, der Tageslaune Ihres Bauchs zu trennen, die Sie ihm lassen sollten.

Zuletzt notieren Sie für die Mahlzeit oder auch die Mahlzeiten, die vielleicht zu Beschwerden geführt haben, hinter den Beschwerden, wie viel Sie ungefähr gegessen haben – ein kleiner Becher Joghurt, eine Tasse Milchkaffee. Da wir eine solide Diagnose haben, reicht es sich die Milchprodukte zu merken. Kommen Symptome ohne jede Milch, sollten Sie das notieren, eventuell die Mahlzeiten. Häuft sich dieses Problem, braucht es einen Gang zu Arzt und vielleicht den einen oder anderen Hinweis mehr, als penible Genauigkeit.

Präzision beim Aufzeichnen, so wünschenswert sie wäre, ist in unserem oft hektischen Alltag eher nicht durchzuhalten. Ernährungstagebücher kann man beliebig kompliziert machen. Manche wollten die Uhrzeit der Mahlzeit, die Grammzahl der Mahlzeit, die Uhrzeit der Beschwerden, eine Bewertung der Beschwerden auf einer Skala von 0 bis 9, die Menge an getrunkenem Wasser, die generelle Stimmung. Das ist theoretisch alles sinnvoll. Doch in meiner Praxis mit Betroffenen erlebe ich vor allem eins: komplette Überlastung.

Wenn Sie plötzlich noch mehr trinken, sich mehr bewegen, täglich meditieren, stets eine Küchenwaage mit sich führen und jeden Leistungssportler in der Aufzeichnung der Mahlzeiten hinter sich lassen sollen, ist das zu viel des Guten. Deutlich. Oft genug werden Betroffene, die diesen Spießrutenlauf nicht durchhalten, in Foren dafür noch abgewertet – undiszipliniert, faul, willensschwach. Hier spricht mehr der Zeitgeist unserer modernen Welt. Jeder geht mit seinen Päckchen auf dem Rücken seinen Weg und verdient, aus meiner Sicht, auch für kleine Anstrengung sich zu bessern Achtung.

Unser Ziel ist deshalb nicht die exakte Wiedergabe Ihres Speiseplans, sondern eine Bauchgefühlhilfe. Wir schulen Ihre Intuition und unterstützen Sie bei der Erinnerung. Beim nächsten Essen ist unser Ziel nicht etwa, dass Sie präzise kalkulieren können, wie viel Gramm Sie heute essen “dürfen”, sondern dass Sie sich zur Not erinnern können, nachschlagen und intuitiv zu essen lernen. Ihr Bauchgefühl ist oft ein kluger und geschickterer Ratgeber bei sehr komplizierten Dingen. Wir helfen hier nur aus, damit Sie immer mehr lernen zuzuhören, wenn der Bauch mit schlechtem Gefühl zu Ihnen sagt „Na, das traue ich mich heute nicht”. 

Die drei Schritte sollen nur eins: Ihnen dabei helfen, Ihr Leben nicht, wie so viele Betroffene einzuschränken, bis jedes Milligramm Laktose und Freude am Essen ausgelöscht ist.

Bei Laktoseintoleranz besteht, wie für Fitnessfreunde und Diätexperimentierfreudige die Gefahr, dass sie es übertreiben bis hin in seelische Erkrankungen hinein. So wie es Menschen gibt, die jeden Tag ins Fitnessstudio gehen und nie zufrieden sind, gibt es Laktoseintolerante, die jede Spur Laktose als Gefahr empfinden. Für einen gesunden Bauch werden Angst und Gefahr oft genug schlimmer als die Laktose selbst.

Wichtig ist mir, dass damit Betroffenen mit schweren Symptomen nicht das Gefühl gegeben wird, es sei alles „Einbildung, Stress“ oder was immer das Umfeld in der Regel zu bieten hat, wenn es die eigenen Sorgen nicht nachempfinden kann oder will.

Mir geht es darum, Sie zu ermutigen und Ihnen einen kleinen Schimmer Hoffnung zu machen, dass es bald besser gehen kann. Selbst wenn es gerade in so weiter Ferne liegt. Ihre Toleranzgrenze kann sich verbessern lassen. Deshalb, bevor Sie weiterlesen und direkt zum nächsten Schritt kommen, geben Sie den vermeintlich so einfachen Kniffs eine Chance.