Haben Sie vielleicht keine Laktoseintoleranz? Eine Ermutigung.

Martin Lipsdorf stellt seit 2011 Laktasepräparate von Hand in Leipzig her und teilt seine Erfahrungen auf diesem Blog mit Menschen, die keine Milch vertragen.

Anders als meine übrigen Artikel, die sich oft in das kleinste Laktasedetail verbeißen, geht es hier nicht nur um Laktase.

Dieser Artikel soll für Sie ein Einstieg sein in unsere kleine Welt. Es geht um die Diagnose Laktoseintoleranz und darum, warum ein großer Teil unserer Besucher vielleicht eine komplett neue Diagnose brauchen könnte.

„Sie sind laktoseintolerant.“

Zu uns finden Menschen entweder über Empfehlung froher Bestellerinnen oder aber auf der Suche nach einem Weg, besser mit Ihrer Laktoseintoleranz zurechtzukommen.

Meist haben sie sich schon Jahre gequält: Ursache unbekannt. Bis heute ist Laktoseintoleranz nichts, woran Ärzte direkt denken und Blähungen, Durchfall und Übelkeit selten etwas, worüber sich Betroffene leicht zu reden trauen.

Umso größer ist die Freude, wenn sie plötzlich von anderen Betroffenen, in Zeitschriften oder im Internet etwas lesen, das ihnen so furchtbar bekannt vorkommt. Wir hoffen. Jetzt, wo wir die Ursache kennen, sollte sich doch etwas machen lassen.

Die Lösung ist ganz einfach

Nach dem Test beim Arzt haben wir Gewissheit. Eine Laktoseintoleranz. Es ist der Zucker in der Milch, die Laktose. Wenn wir Milchprodukte essen oder trinken, kommt unser Bauch durcheinander und es rächt sich ganz fürchterlich. Zum Glück gibt es eine einfache Lösung vom Arzt für dieses Problem. Einfach keine Milch mehr. Gar nicht mehr. In keiner Form. Nie wieder. Alles Gute und bis zum nächsten Mal.

Geht es uns wirklich besser?

Wir wissen, was mit unserem Bauch los ist. Aber geht es uns wirklich besser? Für die Mehrzahl der Betroffenen, die ich in den letzten 10 Jahren erlebt habe, nimmt der Alltag eine wenig schöne Wendung. Keine Milch mehr, das klingt einfach. Keine Sahne, kein Quark, kein Joghurt, kein junger Käse, kein Frischkäse, gar kein Milchzucker.

Die Laktose steckt, wie der Teufel, im Detail.

Ein Blick auf die Medikamente und man merkt: liebe Güte. Laktose! Das Eis im Sommer? Nur noch Sorbet. Essen gehen mit Freunden? Kaum möglich, wer weiß, was im Essen ist. Milchkaffee? Adieu. Hafer oder zuckersüße laktosefreie Milch. Milchschokolade? Nur anschauen.

Die Symptome sind weg, aber die Beschwerden bleiben

Nach ein paar Wochen haben wir uns in unserem Leben so eingerichtet, dass die Symptome weg sind. Aber sind sie es wirklich? Sicher, der Bauch ist meist ruhig. Aber wehe, es wird genascht, wehe, es wird gesündigt. Freude beim Essen? Die Konsequenzen schweben wie das berühmte Damoklesschwert über uns.

Eine falsche Mahlzeit und die alten Sorgen kommen, oft heftiger als vorher, wieder zurück, denn unser Bauch und Milchzucker sind sich fremd geworden. Die Symptome im Bauch mögen fort sein, wenn wir auf alles verzichten – aber sie sind nur umgezogen.

Plötzlich geistern sie, als Sorge beim Essen, als Bedauern im Verzicht, als Verlust von Genussfreiheit, im Kopf herum.

„Haben Sie Ihre Laktoseintoleranz etwa nicht im Griff?!“

Dabei ist es doch, jetzt, wo Sie wissen, dass Sie eine Laktoseintoleranz haben, so einfach. Einfach Verzichten.

Das heißt in Facebookgruppen und Onlineforen, die meist nicht bekannt sind für Ihr einfühlsames Miteinander, oft, sich anzuhören, dass man sich zusammenreißen muss. Alles eine Frage der Disziplin. Sonst hat man die Symptome verdient. Eisern bleiben und Ersatzprodukte kaufen, viel Laktase nehmen. Besser aber: Verzicht, Verzicht, Verzicht.

Unsere Millis, die handgemachten Laktase Dragees, die wir herstellen, werden oft liebevoll die Millisekunden genannt. Wenn ich könnte, hätte ich gern ein Wundermilli.

Eins, das die Zeit für unsere Besteller zurückdreht und den Weg, den sie vom Arzt aus gehen, ändert. Stellen Sie sich vor, in einer anderen Welt wäre es ganz anders gelaufen:

„Sie haben etwas wenig Laktase im Bauch, aber das ist ganz normal“

Die Diagnose steht. Sie haben endlich die Ursache Ihrer Symptome gefunden und Ihr Arzt kann helfen. Diagnose: Laktasemangel. Ihr Körper macht etwas weniger Laktase, als sie gebrauchen könnten.

Der Arzt überreicht Ihnen eine kleine Broschur, die sie aufklärt.

Er gibt Ihnen aber vor allem Mut mit: Ein großer Teil Ihrer Symptome kann ohne Hilfsmittel oder Ersatzprodukte besser werden, wenn Sie die Hinweise in der Broschur befolgen.

Sicher, wenn Sie es sich mal richtig gut gehen lassen wollen, dann sollten Sie Ihren Bauch etwas unterstützen. Aber kennen wir das nicht ohnehin, wenn wir zu Weihnachten oder Festtagen geschlemmt haben und merken „Her je … zu viel. Einfach zu viel von allem“?

Auf Ihre Frage, ob sie jetzt für immer auf Milch verzichten müssen, kommt Entwarnung: „Nein, das ist sehr wahrscheinlich gar nicht nötig.

Von einer komplett laktosefreien Ernährung wäre sogar eher abzuraten, denn sie könnte alles noch schlimmer machen. Ihr Arzt verabschiedet Sie und bietet an, dass auch Ernährungsberatung durch die Krankenkasse möglich wäre, wenn es etwas holprig wird.

Naschen nach Anleitung – oder: kleine mutige Schritte

Daheim lesen Sie Ihre Broschüre. Sie lernen, dass Ihr Bauch über die Jahre etwas weniger von dem Zucker in der Milch verträgt. Etwas, dass bei einem großen Teil der Menschheit passiert – sie sind also in guter Gesellschaft mit der großen Menschheitsgemeinschaft und Ihren Ahnen über viele tausend Jahre.

Sie lesen auch, dass Ihr Bauch aber zwei Wege hat, den Milchzucker zu vertragen. Einmal der, der so langsam fortgeht wie mit dem Älterwerden das eine oder andere sonst. Dann gibt es aber noch die Helfer in Ihrem Dickdarm, die Laktose verdauen können und manchmal durch Krankheit, Antibiotika oder Ernährung nicht so fit sind. Dazu gehört auch eine strikt laktosefreie Ernährung, die den Helfern Ihr Lieblingsessen nimmt.

Nach einigen Tagen schonender Kost rät Ihnen die Broschur dazu, ganz sachte und langsam wieder Milchprodukte auszuprobieren.

Dabei lesen Sie, dass gar nicht von Ersatzprodukten die Rede ist oder von der Einnahme von Laktase, sondern von laktosehaltigen Milchprodukten. Sie lernen, dass Ihre Helfer im Darm vor allem Probleme bekommen, wenn sie überarbeitet sind. Indem Sie die Portionen über den Tag verteilen und auch etwas verkleinern, kommen Sie und Ihre Helfer besser miteinander zurecht.

Es beginnt eine Phase des Ausprobierens. Vielleicht mit einer kleinen Gedächtnisstütze wie einem einfachen Notizblock oder einem Tagebuch. Sie naschen in kleinen Portionen und tasten sich sachte vorwärts, um zu sehen, wo der Bauch Ihnen zeigt, dass es noch zu viel ist.

Oft merken Sie, wie Ihr Wohlbefinden hier mitmischt. An stressigen Tagen ist auch Ihr Bauch unruhig – er zeigt Ihnen damit mehr, als nur eine Laktoseüberarbeitung an.

Sie lernen, auf ihn zu hören und entwickeln ein Bauchgefühl dafür, was geht und wo es doch gerade etwas zu viel wäre. Wo Sie bemerken, dass Sie einfach Lust auf etwas haben, da greifen Sie auf laktosefreie Ersatzprodukte oder auch Laktase in kleinem Maß zurück. Die Laktase brauchen Sie selten und dosieren Sie moderat. Sie hilft Ihrem Bauch nur, sich selbst zu helfen und arbeitet etwas mit.

Nach ein paar Wochen haben Sie das Laktosethema für sich im Griff und können, zusammen mit Ihrem Bauch, intuitiver essen als vorher.

Laktoseintoleranz ist heilbar. Nun, fast.

In der ersten Welt haben Sie eine Laktoseintoleranz und enden damit, sich einzuschränken, haben Angst vor Fehltritten, studieren Lebensmitteletiketten und kaufen laktosefreie Ersatzprodukte. Laktase meiden Sie, vielleicht wirkt sie nicht oder sie nehmen zu viel – zu jeder Mahlzeit eine kalkige Tablette. Gut kauen nicht vergessen.

In der zweiten Welt haben Sie nur einen Laktasemangel. Sie und Ihr Bauch werden ein Team. Ihr Bauch gibt sich Mühe, den Laktasemangel etwas auszugleichen. Sie hören ihm dafür zu und naschen in kleineren Mahlzeiten oder nehmen, Bauchdiplomatie, eine Laktase Tablette oder einen Schluck laktosefreie Milch. Mit dieser Achtsamkeit gestalten Sie ihren Tag und vergessen, mit der Zeit, dass da ein Laktosethema war.

Vielleicht wünschten Sie sich, Ihr Arzt hätte „nur“ einen Laktasemangel feststellen müssen und nicht die deutlich schwerere Laktoseintoleranz?

Es gibt Hoffnung und ich will Ihnen den Mut machen, den Ihr Arzt Ihnen vielleicht unterschlagen hat: Es handelt sich um die gleiche „Erkrankung“.

Laktasemangel, fachlich als Hypolactasie (hypo- für Unter-, also weniger als Andere) von Medizinern bezeichnet, ist nichts anderes als das, was wir (leider) Laktoseintoleranz nennen.

Der Unterschied? Nur ein Wort. Doch eines mit Folgen. Während das Wort „Intoleranz“ eine Nullverträglichkeit signalisiert und unterstellt, dass wir Verzichten, Meiden, Angst haben und einschränken müssen, ist das auch medizinisch exakte Wort Laktasemangel milder.

Es gibt Hoffnung.

Es zeigt die Möglichkeiten auf. Wo ein Mangel ist, kann man aushelfen. Eine Nulltoleranz dagegen ist absolut, schwarz und weiß.

Ich bedauere über die Jahre immer mehr, dass sich das fachlich falsche und kaum hilfreiche Wort Laktoseintoleranz eingebürgert hat.

So viele Chancen gehen für Betroffene verloren, nur weil sie ein falsches Etikett für exakt dieselbe Symptomatik bekommen und ohne Hilfe fortgeschickt werden. Sicher lässt sich damit mehr verkaufen. Laktase oder Ersatzprodukte erscheinen als die einzige Alternative.

Doch sowohl der europäische Sachverständigenrat als auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung versuchen, wie wir im Kleinen, seit Jahren dieses falsche Bild geradezurücken.

Worte sind wirkkräftig

Selbstdiagnosen sind nicht zu empfehlen – besonders die Atem- und Gentests, die Ihnen im Internet verkauft werden. Aber diese Seite ist, ganz kostenfrei, eine Einladung zur Selbstdiagnose. Waren Sie laktoseintolerant? Haben Sie den Mut, einen Laktasemangel zu diagnostizieren.

Die medizinische Sachlage gibt Ihnen Rückenwind für dieses neues Wort, dass Ihnen – wie das berühmte „Sesam, öffne dich“ – einen kleinen Schatz aufzeigen kann: die Möglichkeit, dass es Ihnen bald besser gehen und Ihr Alltag sich wieder um die schönen Dinge des Lebens drehen kann. Alles, was es braucht, um diese neue Welt zu erreichen, ist der erste Schritt: geben Sie sich eine neue Diagnose.